26.06.2023 - Reutlinger General-Anzeiger

Bühne – Schwungvoll mit viel Musik und Tanz: "Der Zauberer von Ozz" am Naturtheater Reutlingen

Hexen, Nuschler, Flügelaffen

VON ARMIN KNAUER

REUTLINGEN. Ein kleines Mädchen verschlägt es in eine bunte Fantasiewelt, und auf dem Weg nach Hause bekommt es die junge Heldin mit den bizarrsten Figuren zu tun: Bei dieser Geschichte denkt in Europa jeder sofort an "Alice im Wunderland", in den USA hingegen an "Der Zauberer von Oz". Das Naturtheater Reutlingen hat für sein diesjähriges Kinderstück die US-Variante gewählt. Mit Erfolg! Die Premiere am Freitagabend im Wasenwald entpuppte sich als Abenteuerreise voll verrückter Charaktere. Mit Wortwitz, Musik, Tanz und Effekten. Und einer rundum positiven Botschaft: Freundschaft überwindet jedes Handicap!

Im Gegensatz zur britischen Upper-Class-Tochter Alice ist Dorothy ein bodenständiges Landmädel aus dem Mittleren Westen. Kostümbildnerin Sibylle Schulze steckt sie denn auch in Latzhose und Karohemd. Und Annika Schlosser gibt ihrer Rolle das passend Zupackende. Es wird nicht rumgeheult, sondern die Ärmel hochgekrempelt. An ihrer Seite stets zu Späßen aufgelegt ist Leoni Raab als Hündchen Toto im Zottelkostüm. Sabine Zana und Dietrich Stoll sind als Tante und Onkel das bodenständige Farmerpaar, das sich mit einem unzufriedenen Kunden rumplagen muss – bis ein Wirbelsturm alle in den Schutzkeller treibt. Was Dorothy und Toto nicht rechtzeitig schaffen, sodass sie mitsamt der Kellerluke fortgewirbelt werden. Um wenig später im Land der Nuschler zu landen.

Wortspiele und viel Humor

Regisseur Irfan Kars hat die nüchterne Farmerwelt und das bunte Fantasieland prima gegeneinander abgesetzt. Plötzlich ist alles grellbunt, Bühnennebel wabert, es wird gesungen und getanzt. In den Text hat Kars allerlei Wortspiele und aktuelle Anspielungen eingeflochten, womit er den anarchischen Humor der Vorlage trifft. "Hurricane" wird mit "Harry Kane" verwechselt, dem walisischen Fußballstar, die Umweltthematik wird angerissen. Die Tanzchoreografien von Carmen Lamparter bringen viel Schwung auf die Bühne. Und die Musik von Oliver Krämer gibt dem Ganzen Pep. Mal wird im Chor gesungen, mal solistisch, mit Herzblut und Können. Bei Dorothy und ihren Freunden klingt das eingängig-poppig, bei der bösen Hexe des Westens und ihrer finsteren Schar dröhnt es finster-rockig.

Laune macht der bunte Mix aus skurrilen Figuren. Erst trifft Dorothy auf die Nuschler, die so heißen, weil sie sämtliche Vokale verschlucken. Sie stecken in grellgelben Latzhosen und haben Propeller auf den Köpfen wie Karlsson auf dem Dach. Herrlich fies in ihrem bunten Zottelkleid Angelica Kuhr als böse Hexe des Ostens. Während Zoey Röhm die gute Hexe des Nordens als coole Cowgirl-Prinzessin gibt, die Dorothy und ihren Freunden aus der Patsche hilft.

Diese Freundestruppe ist der genialste Einfall von US-Autor Lyman Frank Baum, der sich tatsächlich von Lewis Carrolls "Alice" inspirieren ließ, als er im Jahr 1900 den "Zauberer von Oz" herausbrachte (in Reutlingen mit "zz" geschrieben). Doch während Alice nie weiß, wem sie trauen kann, macht Freundschaft bei Baum sogar eine Gruppe Gehandicapter zum Superteam. Der Vogelscheuche fehlt ein Hirn, dem Blechmann ein Herz, dem Löwen der Mut, doch zusammen sind sie unschlagbar. Baums Truppe ist ein flammendes Plädoyer für Inklusion und Diversität, noch ehe die Worte erfunden waren.

Dorothys Freunde sind denn auch die besonderen Hingucker. Erik Bayer ist als Vogelscheuche mit Stroh statt Hirn ein gewitzter Bursche. Der Blechmann (Pascal Muckenfuß) in seiner tollen Rüstung hat auch ohne Herz selbiges am rechten Fleck. Jann Lange ist im knuffigen Löwenkostüm zwar ängstlich, aber keineswegs auf den Mund, Pardon, die Schnauze gefallen. Auch die Gegenspieler laufen zu großer Form auf: Silke Bayer ist im hautengen Glitzerdress eine dämonische Westhexe. Und ihre Flügelaffen mit Polizistenmützen und schwarzrosa Kostümen sind unheimliche Wesen der Nacht.

Der Zauberer soll’s richten

So liegen alle Hoffnungen von Dorothy und ihren Freunden auf dem Zauberer von Ozz in der Smaragdstadt. Wo eine neue Überraschung wartet. Welche, soll nicht verraten werden. Nur so viel: Der von Ramon Soltic buchstäblich effektvoll gespielte Zauberer hat bei Irfan Kars nicht umsonst die Aura eines Popstars.

So wird diese Abenteuerreise durchs Fantasieland von Ozz zu einem kurzweiligen Vergnügen, mit reichlich Tanz, Musik und Theaterdampf, mit Lust und Können gespielt und mit viel Witz und einer wichtigen Botschaft: Unsere Schwächen und Handicaps gehören zu uns – auch und gerade in der Freundschaft. Das kleine und große Publikum in der fast ausverkauften Arena war begeistert. (GEA)