19.06.2023 - Reutlinger General-Anzeiger
Freilichttheater – Alexander Reuter setzt das Musical "Sister Act" im Naturtheater Reutlingen fulminant in Szene
Der Star ist das Ensemble
VON CHRISTOPH B. STRÖHLE
REUTLINGEN. Das Ensemble ist der Star – selten waren Stückaussage und Realität im Naturtheater Reutlingen so deckungsgleich wie bei der neuen Eigenproduktion "Sister Act", die am Samstagabend auf der Wasenwaldbühne eine rauschende Premiere feierte. Es gab Standing Ovations.
Das auf dem gleichnamigen Film von 1992 mit Whoopi Goldberg basierende Musical von Cheri Steinkellner und Bill Steinkellner (Buch) mit der Musik von Oscarpreisträger Alan Menken und Gesangstexten von Glenn Slater (in deutscher Übersetzung) feierte in den 2010er-Jahren nicht zuletzt im Stuttgarter Apollo-Theater große Erfolge; nun ist es auch für Amateurtheater freigegeben.
Das Ensemble – zwei Dutzend Darstellerinnen und Darsteller bringen das Stück in der Regie von Alexander Reuter ausgesprochen sinnenfroh auf die Bühne – erweist sich als hochgradig pointensicher. Da wird nicht einfach nur Text aufgesagt, sondern es wird mit einer Hingabe, mit Tempo und Spielwitz mit Worten jongliert, dass es eine wahre Freude ist. Wie man es vom Naturtheater Reutlingen kennt.
Tänzerischer Balzwettbewerb
Klar hat Claudia Schickler als Nachtclubsängerin Deloris van Cartier eine herausgehobene Rolle – und macht ihre Sache so gut, dass man sie gar nicht genug für ihr Spiel, ihre Sanges- und Tanzkünste loben kann. Aber wie Deloris im Stück erkennt, dass es nicht darauf ankommt, allein und allem enthoben ein Star zu sein, so stellt sich auch beim Zuschauen der Eindruck ein, dass hier erst das Zusammenwirken mit dem Schickler in nichts nachstehenden Ensemble den vollen Reiz ausmacht.
"Ich bin zu heiß, um ein Flop zu sein", hat Deloris anfangs, umrahmt von den Soulgirls Michelle und Tina (Carolin Lamparter und Julia Kars), im Paillettenkleid gesungen. Sie habe Charisma und Sex-Appeal für zehn. Als sie aber, versteckt als Schwester Mary Clarence in einem Nonnenkloster, um später in einem Gerichtsprozess gegen einen Mörder aussagen zu können, eine Welt des Zusammenhalts und des Füreinander-Einstehens entdeckt, sind ihr plötzlich die neu gewonnenen Freundinnen, also die Nonnen, wichtig. Sie, die immer wenig Menschenkenntnis und Bereit-schaft bewiesen hat, sich in ein gesellschaftliches Gefüge einzuordnen, zeigt sich dankbar und demütig. Wobei sie ihre ansteckende Lebens-freude, die sie in die Musik mit den Nonnen packt, schon noch behält. Selbst der Papst, dargestellt vom Naturtheatervereinsvorsitzenden Rainer Kurze, lässt sich im Stück von ihr zum Mitgrooven animieren.
Es gibt in "Sister Act" so viele Dialoge und Szenen, die, selbst wenn man sie kennt, überraschen. Einfach, weil sich die Darstellerinnen und Darsteller so lustvoll ins Zeug legen. Sei es, dass eine Ordensfrau die Nachricht, dass der Chor der Nonnen vor "Seiner Heiligkeit" auftreten soll, zum schrillen Freudenruf "vor Elvis Presley?" veranlasst. Sei es, dass die Entourage des von Holger Schlosser maliziös gespielten Gangsters Curtis einen tänzerischen Balzwettbewerb (Choreografie: Carmen Lamparter) auf die Bühne bringt, um Frauen, in diesem Fall die Nonnen, zu beeindrucken.
Wandlung eines Polizisten
Großartig sind Deloris’ anfängliche Wortgefechte mit der Mutter Oberin (stark: Susanne Hammann). Und wie die beiden später ihren Frieden miteinander machen. Als zwischen Ernüchterung und Begeisterungs-fähigkeit wechselnder Monsignore O’Hara macht Ingo Raiser einen guten Job. Roger Gaag nutzt als Eddie Souther, Chef der Polizeistation, die Wandlungsfähigkeit, die seiner Figur vergönnt ist – vom schüchtern-dienstbeflissenen "Schwitzefritze" zu einem, der sich was traut und zu Deloris, seiner Bekannten aus Collegezeiten, eine kaum noch für möglich gehaltene Nähe aufbaut. Berührend auch, wie Deloris und die Novizin Mary Robert (Désirée Giarrizzo) einander den Rücken stärken.
All das fügt sich zur gelungenen Aufführung, an der auch die vielen Engagierten hinter den Kulissen ihren nicht zu unterschätzenden Anteil haben – vom musikalischen Leiter Oliver Krämer über Regieassistentin Kim Glaunsinger bis hin zu Bühnenbildner Dirk Schneider und dem Duo Catrin Brendel und Mechthild Scheinpflug, ohne deren Kostüme der Abend längst nicht den vollen Glanz entfalten würde. Die Liste ließe sich fortsetzen. So lautet das Fazit des Rezensenten: Uneingeschränkte Empfehlung! (GEA)