20.06.2022 - Reutlinger General-Anzeiger
Freilichtbühne – Schwäbische Turbulenzen: Premiere der Komödie "Die Kirche bleibt im Dorf" am Reutlinger Naturtheater
"Ja legg mich am A.…!"
VON ARMIN KNAUER
REUTLINGEN. Was hat man am Reutlinger Naturtheater nicht alles schon gesehen: Musketiere, Vampire, Weltliteratur. Ein richtig derber Dorfschwank im Dialekt, wie man ihn auf einer solchen Amateurbühne erwarten würde, war jedoch kaum je dabei. Nun aber doch, mit dem Stück "Die Kirche bleibt im Dorf" als Gegenprogramm zur krisengeschüttelten Gegenwart. Zwei Stunden abschalten bei einem Gagfeuerwerk über weit harmlosere Probleme als im richtigen Leben gaben Naturtheaterchef Rainer Kurze und OB Thomas Keck bei der Saisoneröffnung am Samstagabend als Devise aus. Was die Naturtheatertruppe im Wasenwald vor vollem Haus mit Volldampf und knatternden Motoren einlöste.
Um was es geht: Nur zähneknirschend teilen sich Oberrieslinger und Unterrieslinger Kirche und Friedhof. Man ist sich in herzlicher Feindschaft zugetan, die Beerdigung einer Patriarchin besorgt den Rest. Ein Schlagloch bei der Anfahrt und ein Altglascontainer in Grabnähe genügen, schon rüsten Oberrieslingens Schultes Häberle und Unterrieslingens Schweinezüchterin Rossbauer zum Showdown. Hinter ihrem Rücken jedoch bandelt beider Nachwuchs an. Da taucht ein smarter US-Amerikaner auf, bietet Millionen für die Kirche. Was steckt dahinter?
Spiel mit dem Nonsens
Die Figuren liebevoll zu überzeichnen und trotzdem den Kern des Realismus zu bewahren, das war die Kunst von Regisseurin Ulrike Grote bei ihrem gleichnamigen Kino-Überraschungserfolg von 2012. Im Wasenwald ist die Überzeichnung noch weiter getrieben, das Spiel mit dem Absurden und dem Nonsens auch, was nicht zuletzt an Michael Gaedt liegt, zum ersten Mal Alleinregisseur im Wasenwald. Für verspielten Chaos-Humor war er schon als Frontmann der Blödelrockgruppe Die Kleine Tierschau zuständig. Nun tuckern ständig bizarre Kleingefährte über die Szenerie, vom knatternden Motorfahrrad über einen Aufsitzmäher bis zur motorisierten Schubkarre.
Zwischendurch tauchen auch mal zwei ratschende Rollatorenweiber auf, ohne dass es im Geringsten etwas mit der Handlung zu tun hätte. Einer VHS-Exkursion über das Sexualleben der Dachse wird gleich eine komplette Viertelstunde Bühnenzeit eingeräumt. Das bringt Lacher in Serie, treibt das Stück jedoch in Richtung einer trashigen Dorfklamotte – und damit weg von jenem Rest Realismus, den es eben auch braucht.
Ein Zwiespalt, der im Schauspielerischen gleich nochmal auftaucht. In der übersichtlich in Wirtshaus, Weinberg, Friedhof und Kirche gegliederten Szenerie (Bühne: Dirk Schneider, die nett zwischen Dorf und Moderne balancierenden Kostüme sind von Sibylle Schulze) geben die Hauptdarsteller sofort Vollgas. Sodass viele Figuren wie Karikaturen rauskommen, das aber immerhin prächtig.
Naturtheater-Urgestein Ingo Raiser ist ein bockelsturer Schultes Häberle, Petra Glaunsinger als seine Kontrahentin Rossbauer im Dauerangriffsmodus. Dazu kommen Häberles aufsässige Töchter: Claudia Schickler als dauerpampige Maria, Lea Schönwälder als sanftmütige Christine und Carina Wurtz als liebestoller Wildfang Klara. Merklich zurückhaltender sind die Rossbauer-Söhne angelegt: Pascal Muckenfuß als Peter ist ein Nerd mit Basecap, Markus Banaski als Karl die Sanftmut in Person.
Thilo Metzger glänzt als amerikanischer Sonnyboy auf Einkaufstour (und Brautschau). Roger Gaag als sein deutscher Kontaktmann gibt astrein die aalglatte Managertype mit badischem Migrationshintergrund. Dazu Nenad Soltic als bechernder Pfarrer und viele andere.
So wird in diese zwei Stunden wirklich alles gepresst, was irgendwie zu zünden verspricht. Etwa ein herrlich knarziges Schwäbisch, das sogar das Wohlwollen von "Mundartpapst" Wilhelm König fand. Der Erstaunensruf "Legg mich am Arsch!" fällt im Stück so oft, dass man Statistik zu führen geneigt ist. Für Heiterkeit sorgt zudem der Zusammenprall von Schwäbisch, Amerikanisch, "denglischem" Radebrechen und Badener Mundart.
Ave Maria und Schweinchentanz
Zu Tränen rührt ein Ave-Maria-Gesang (Sonja Soltic). Ein Genuss die fetzig-abgedrehten Choreografien Carmen Lamparters, darunter ein Cancan in Gummistiefeln und Schweinsöhrchen. Reichlich schwarzen Humor gibt’s zudem, mit einer Oma im Sarg, die unermüdlich durchs Stück geschleppt wird. Nebst allerlei Mystery-Bezüge, von der magischen Kelch-Inschrift bis hin zu einem Fluch, dessen Bewandtnis nie aufgeklärt wird. Und logisch ist jede Menge Sex im Spiel, im Weinberg, in der Kirchengruft, da ist der unter Hormondruck stehende Dörfler bekanntlich nicht wählerisch.
Ein Geschehen, das Michael Gaedt als Regisseur mit flotten Szenenfolgen und fast filmischen Fokuswechseln ständig in Bewegung hält. Wirkungsvoll ist zudem die von Oliver Krämer zusammengestellte Musik – grandios der schräge Trauermarsch zur Beerdigung am Beginn. Kurzum: Mit Gags und Unterhaltung wird man als Zuschauer förmlich druckbetankt.
Dass es am Ende dann doch ein bisschen mehr wird als eine reine Nonsens-Parade, ist der plastischen Figurenzeichnung zu danken. Wobei hier Claudia Schickler, Lea Schönwälder und Carina Wurtz als Häberle-Töchter herausragen: Drei junge Frauen, deren beherzter Eigensinn den Dorfschwank zur Emanzipationserzählung macht. Drei Frauen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, was ihnen letztlich ein Profil jenseits des Komödien-Abziehbildes verschafft. Diese Mädels wissen, was sie wollen und holen es sich, auch in erotischen Dingen. Was die Sache dann auch wieder vorhersehbar macht. Denn dass jede von ihnen sich ihren Wunsch-Lover am Ende angeln wird, ist von der ersten Szene an klar.
Aber dafür darf man ja über das mysteriöse Rätsel aus der Vergangenheit grübeln, das die Ober- und Unterrieslinger Gegenwart so heftig durcheinanderwirbelt. Steckt der Heimatdichter Wilhelm Strümpfelbach dahinter? Oder noch ein ganz anderer Dichter mit den Initialen W.S.? Expertentipp: Man beachte das unscheinbare Porträtbildnis am Kirchturm. (GEA)