06.06.2017 - Reutlinger General-Anzeiger
Tag der offenen Tür – Naturtheater stellt Sommerstücke vor und bietet Tausenden Besuchern Blick hinter die Kulissen
Tuchfühlung mit Mantel und Degen
VON MARTIN BERNKLAU
Das war schon eine ganz passgenaue Lücke, die sich das Reutlinger Naturtheater – rein wettertechnisch – für seinen Tag der offenen Tür ausgesucht hatte. Tausende wollten den Pfingstsonntag im Wasenwald verbringen. Jedenfalls waren die tausend Plätze unterm Dach des Zuschauerraums praktisch voll besetzt bei allen vier Proben-Ausschnitten. »Die drei Musketiere« und »Die Schöne und das Biest« stehen im Mittelpunkt des sommerlichen Festivals auf der Freilichtbühne.
Aber auch die Stadtkapelle unter ihrem Dirigenten Jakob Maria Guizetti konnte bei ihrem Mittagskonzert nicht klagen über fehlende Zuhörer, obwohl sich die letzten Regenwolken erst kurz zuvor verzogen hatten. Das Rote Kreuz, wie immer auch als Helfer zugegen, bot einen Infostand, ebenso wie die Fechter der Reutlinger TSG und der benachbarte »Waldwichtel«-Kindergarten. Einen Pfingstochsen gab es zwar nicht, aber alles andere an Gegrilltem und Getränken satt. Kuchen natürlich auch. Und Popcorn.
An der Kasse konnten schon Karten für die sommerlichen Aufführungen und die anderen Events erstanden werden, die am 17. Juni mit der Premiere der »Drei Musketiere« und am 23. Juni mit der ersten Vorstellung des Jugend-Musicals von »Die Schöne und das Biest« beginnen. Als »Blick hinter die Kulissen« starteten dort auch die begehrten halbstündigen Erkundungen des geheimnisreichen Geländes, über das altgediente Aktive des Naturtheaters führten.
Preisgekrönter Zuschauerraum
Zum Beispiel Andreas Pedretti, der seit 34 Jahren dabei ist und immer wieder auch in Bühnenrollen schlüpfte. Bei den ersten »Drei Musketieren« aus der Saison 1994 stand er damals in einer wichtigen Nebenrolle an der Seite des intriganten Kardinals Richelieu. Inzwischen kümmert sich der gelernte Großhandelskaufmann vor allem um die weit über 300 Vereinsmitglieder der Freilichtbühne.
Als Erstes führt er die Besucher in die Bühnenregie, den »allerteuersten Raum« des für seine Architektur preisgekrönten Zuschauerraums, wo Regisseurin Susanne Heydenreich Absprachen mit den Licht- und Tontechnikern trifft. Stolz ist das Naturtheater auch auf seine Drehbühne gegenüber, durch die den Regisseuren und der Bühnenbildnerin Maja Rumswinkel eine Fülle neuer Möglichkeiten offen stehen.
Bühnenmodelle hinter Glas
Oben hinter der Bühne, nicht weit vom Kostümverleih, gibt es einen Raum, in dem hinter Glas die filigran gebastelten alten Bühnenmodelle früherer Inszenierungen aufbewahrt werden. Pedretti schwärmt vor dem Modell noch von der großen Treppe, die 1994 für die erste »Musketier«-Bühne gebaut wurde. Heute planen Regisseure und Bühnenbildner die szenischen Abläufe digital in 3D am Bildschirm.
In der Metallwerkstatt wird an Kleinteilen für die französischen Fechter geschliffen und poliert, in der Maske legt Cecilia Sörensen noch mal kurz selbst Hand an ihr Gesicht, das sie in ihrer Hauptrolle als Schöne neben dem Biest möglichst makellos vorzuzeigen hat. An der Decke der Requisitenkammer hängt auch das Dreierfahrrad, mit dem beim »Schwarzwaldmädel« ein langer Lacher garantiert war, und mit dem der Wachtmeister Dimpfelmoser damals dem Räuber Hotzenplotz hinterhereilte – wie sich Pedretti mit ansteckender Rührung erinnert.
Nicht weit weg von diesen nostalgischen Schätzen verscherbelt Sebastian Rädge im Flohmarkt meistbietend Requisiten. Einen Cocktailshaker aus den Fünfzigern hat er im Angebot, der »wahrscheinlich doch nicht mehr gebraucht wird«.
Das ist vor allem im Kostümverleih anders, der zum wirtschaftlichen Beiprogramm des Naturtheaters gehört. Trude Heck will verhindern, dass sich die Besucher in ihren Labyrinthen verlaufen. Dort wirft man eher nichts weg, auch nichts völlig abgefahren aus der Mode Gefallenes, wo es doch noch mal für sauberes Zeitkolorit irgendeiner Inszenierung oder die besonderen Wünsche von Kollegen und Kunden taugen könnte.
Susanne Heydenreich tippt backstage zwischendurch noch Dienstliches ins Smartphone. Als Autorin ihrer »Musketier«-Fassung hat sie dem begeisterten Publikum gerade vorgeführt, wie viel Spaß die Einstudierung eines solchen Stücks machen kann, aber auch, wie viel harte Arbeit das gerade für die Schauspieler-Laien des semiprofessionellen Naturtheaters bedeutet. »Ein Stück Weltliteratur, lesen Sie’s!«, wirbt sie für den Roman von Alexandre Dumas, den sie in ihrer Hand hält. Auch Naturtheater-Vorstand Rainer Kurze hat sich übrigens heuer noch mal in Mantel und Degen geworfen und nimmt an einer Fechtszene teil.
Attraktiv und aktuell
Die Choreografin Carmen Lamparter ist dabei eng an der Seite der Regisseurin. Gerade bei der Musical-Fassung des Jugendstücks von Regisseur Ambrogio Vinella und von Musiker Alexander Reuter müssen die Tanzelemente attraktiv und aktuell sein – bis hin zu den kleinen Schäfchen und Katzen aus der allerjüngsten Generation der Naturtheater-Mimen.
Im Publikum folgen die zum Familienausflug in den Wasenwald gekommenen Zuschauer aus allen Generationen gebannt dieser Live-Theaterarbeit im fortgeschrittenen Probestadium. Klar, dass die Schauspielzwerge noch mehr Szenenapplaus bekommen als D’Artagnans Degenfechter aus der wilden Zeit französischer Adelsmänner, Prinzessinnen und Pfaffen. (GEA)