23.06.2014 - Reutlinger General-Anzeiger
Oper – Eine Tourneetruppe versetzt Verdis »Nabucco« ins Naturtheater. Das Volk Israel leidet im Exil. Und es fröstelt
Abendkühle überm Wasen-Euphrat
VON ARMIN KNAUER
Fragt sich, wer mehr gefroren hat: Das biblische Volk Israel, als es im babylonischen Exil an den Ufern des Euphrat sein Schicksal beklagte, oder jene fahrende Operntruppe, die denselben Stoff am Donnerstagabend im Naturtheater mit Verdi als Oper zum Besten gab.
Der Abend ist kühl, als die ersten Klänge von »Nabucco« in die fast voll besetzte Tribüne wehen. Sechs mächtige Säulen ragen in den Reutlinger Himmel, ein Hauch von Altem Orient weht durch den Wasenwald. Und mit ihm die Frage: Kann es gut gehen, etwas so Komplexes wie eine Oper hierhin zu verlegen?
Klar ist eins: Die Kostüme sind künstlich, gelitten wird echt. Bei sinkenden Temperaturen sieht man die Geigerin am ersten Pult Gymnastik gegen die klammen Finger machen. Ihre Kollegin mummelt sich in ein wärmendes Tuch. In die Trompetenfanfaren mischen sich vom Publikum solche ins Taschentuch.
Woher die Truppe kommt, die von einer »LB-Klassik GmbH« durchs Land geschickt wird, verrät weder das Programmheft noch der Besetzungszettel. Die Namen der Sänger klingen teils italienisch, teils rumänisch. Das Orchester – ein Luxus für so eine Tourneeproduktion! – nennt sich »Philharmonie Klausenburg «, verortet sich selbst also im rumänischen Siebenbürgen. Heute heißt die Stadt Cluj-Napoca. Auch Dirigent Cristian Sandu, im Programm als »Maestro« betitelt, dürfte Rumäne sein. Seine Internetseite meldet »Under Construction«.
Maestro mit fliegendem Haar
Sandu leitet seine etwa 30 Mann/Frau starke Truppe mit Temperament und fliegendem Haarschopf. Und bewältigt dabei agil und pragmatisch eine Aufgabe, die eigentlich nicht zu bewältigen ist. Sein Orchester sitzt nämlich nicht vor, sondern neben der Bühne, die hinteren Musiker können vom Gesang auf der Bühne also kaum etwas hören. Entsprechend driftet das Geschehen immer wieder auseinander – bis Sandu es mit energischen Gesten wieder vereint.
Ein Ding der Unmöglichkeit ist auch, bei laufend sinkenden Temperaturen die Instrumente richtig gestimmt zu halten. Die Streicher tarieren das bewundernswert aus, aber die Bläser stoßen hier an ihre Grenzen. Zwangsläufig trübt sich die Intonation. Da sich die Musiker mangels reflektierender Flächen gegenseitig schlecht hören, ist die Abstimmung immer nur halbwegs präzise. Dennoch alle Achtung, welch kompakten, schlank schwingenden Klang die Truppe hinlegt. Manch zarte Stelle gelingt weit filigraner, als man es bei den akustischen Bedingungen erwarten würde. Die feurigen Tutti-Einsätze allerdings verpuffen – dafür ist das Ensemble schlicht zu klein.
Ungleichmäßig verstärkt
Umso machtvoller wogt der Gesang, weil er elektronisch verstärkt wird. Das nun nicht ganz gleichmäßig. Alexandra Hordoan, die als israelfreundliche Babylonierprinzessin Fenena das Opferlamm vom Dienst verkörpert, hat mit ihrem anmutig-grazilen Sopran beim Soundcheck den Jackpot erwischt. Sie hätte ihre Gegenspieler – ihre machtgierige Schwester Abigail und den bösen Baals-Priester – kraft Mikroverstärkung einfach gegen die Wand singen können.
Tat sie natürlich nicht, sondern ließ sich am Ende vom Babylonierkönig Nabucco retten, der erst im Wahnsinn versinkt und punktgenau zum Finale wieder zu Sinnen kommt. Sein Darsteller Alfio Grasso war der zweite Gewinner beim Soundcheck. Seinem machtvollen Bariton fehlte indes Geschmeidigkeit und die schwingende Eleganz der Linien.
Am natürlichsten kam der Mezzosopran von Maria Ogueta rüber. Als böse Prinzessin Abigail wirkte sie auch darstellerisch am vitalsten. Von ihr ging etwas Dämonisches aus, famos blitzen ihre zornbebenden Spitzentöne!
Selbst den kostümtechnischen Tiefpunkt des Abends übersteht sie mit Würde. Bei ihrem ersten Auftritt als babylonische Eroberin im Jerusalemer Tempel steckt sie in einer karnevalesken Glitzerrobe – wie eine Zirkusdirektorin, die gleich die nächste Nummer ansagt.
Joan Wrasmas brachte als Israeliten-Priester Zacharias das alttestamentarisch Archaische seiner Figur stimmig rüber. Allerdings hörte sich sein knorriger Bass dabei eine Spur zu sehr nach grob behauenem Stein an. Mühelos, sauber und schön im Timbre hingegen Tenor Mihai Irimita als Israelitenprinz Ismael.
»Flieg, Gedanke …«
Einen starken Eindruck hinterließ der Chor: wuchtig, vereinzelt etwas überforciert, dann aber wieder mit mild abgetöntem Melodienfluss. Der ewig berühmte Schicksals-Chor »Va, pensiero«, »Flieg, Gedanke«, steigt bei ihm mit Gänsehaut-Gefühl aus dem Piano auf, behält im Forte Figur und Schönheit und verebbt hauchzart – wunderbar!
Dafür gab’s am Ende, als das Stück zur Zugabe erklang, Bravos und sogar stehende Ovationen. Die waren verdient, weil es eine undankbare Sache ist, solch ein komplexes Musikgeschehen unterm kühlen Nachthimmel zu realisieren. Insgesamt hat sich das Team dabei achtbar aus der Affäre gezogen. Das verdient Respekt. Dass von einer wirklichen Inszenierung nicht die Rede sein konnte (ein Regisseur war gar nicht erst angegeben), das verhüllt gnädig die Dämmerung über dem Euphrat. Pardon, überm Wasenwald natürlich. (GEA)