25.06.2012 - Reutlinger General-Anzeiger
Theater - Begeistert gefeierte Premiere von Susanne Heydenreichs Inszenierung »Dracula« im Wasenwald
Lebensgefährliche Begierden im Naturtheater Reutlingen
Von Monique Cantré
Wolfsgeheul kündigt den Beginn der Aufführung an und dient auch als Pausenzeichen. In die Karpaten geht es in diesem Sommer im Naturtheater Reutlingen, zu Graf Dracula. Auf der bestens gefüllten Tribüne harrt bei der Premiere am Samstagabend ein erwartungsvolles, von vielen jungen Leuten durchsetztes Publikum der wohligen Schauer einer Blutsaugerstory - wie sie gegenwärtig in Literatur und Kino in Mode sind.
Der Vorsitzende Rainer Kurze stellt in seiner Willkommensrede klar, dass mit »Dracula« keine Komödie wie sonst zu erwarten sei, sondern ernsthafter Grusel in der Auseinandersetzung mit den finsteren, unheimlichen Triebkräften im Menschen. Das Goethe-Zitat »Blut ist ein ganz besonderer Saft« steuert Oberbürgermeisterin Barbara Bosch in ihrer launigen Rede zur Eröffnung der Wasenwald-Festspiele bei; unter anderem gibt es ab nächstem Freitag für Kinder »Pippi Langstrumpf«.
Düstere Atmosphäre
Susanne Heydenreichs Inszenierung der von ihr für Reutlingen bearbeiteten Dramatisierung des berühmten Romans von Bram Stoker aus dem Jahr 1897 durch Bernd Klaus Jerofke versetzt die Szene von Anfang an in eine düstere Atmosphäre. Wesentlichen Anteil hat daran neben zugespielten Geräuschen und Musik das Bühnenbild von Jolanta Slowik. Sie hat zwischen das pechschwarze Schloss des Grafen Dracula in Transsylvanien - mit Liebesakt-Wandgemälde hinter der Balustrade - und die elegante Villa der noblen Londoner Familie Westenra ein kerkerähnliches Irrenhaus mit schweren Stahltüren unter einem Friedhof (im zweiten Teil) gebaut.
Ein starker Akzent geht von einer riesigen, in die Bäume ragenden Bildscheibe aus, auf der durch einen dichten Wald versteckte Architektur zu sehen ist. Wie die Irrenhaus-»Mauern« kann es von hinten beleuchtet werden und Schattenbilder werfen. Da erscheint er dann überlebensgroß: der Wolf. Eine raffinierte Lichtregie schafft geisterhafte oder schummrige Effekte, und mit ihr gelingt das Kunststück, im letzten Akt den vorherigen Schlossvorplatz zur Gruft zu verwandeln, wo die Untoten die Tage in ihren Särgen verbringen.
Dort unten im Fackelschein wird zuletzt der Vampir-Graf besiegt. Und dort haucht er sein bis dahin unsterbliches Leben aus - freilich mit einem empfindlichen Faux-Pas der Inszenierung. »Mein Gott, warum hast du mich verlassen? - Es ist vollbracht!« sagt er am Ende. Jesu letzte Worte am Kreuz. Die hätten wir hier lieber nicht hören wollen!
Hervorragende Darsteller
Aufs Ganze gesehen ist die allenfalls nach der Pause etwas zu lang geratene Produktion jedoch ein großer Wurf. Trotz etlicher Erzähl- beziehungsweise Brieflektüre-Texte aus dem Off wird die Spannung gehalten, und die sexuellen Begierden und die Lust aufs Abseitige sind ständig präsent. Es ist begeisternd, zu welch schauspielerischer Kompetenz Susanne Heydenreich, die Intendantin des Stuttgarter Theaters der Altstadt, das NTR-Ensemble gebracht hat. Die Hauptdarsteller sind von Profis kaum noch zu unterscheiden.
Holger Schlosser bringt als Dracula einen smarten und doch gebieterischen Fürsten der Finsternis auf die Bühne, in dessen Wesen sich Skrupellosigkeit und Melancholie treffen. Sascha Diener hat als Anwalt mit Sprachtick einen kurzen Auftritt und liefert dann als tatkräftiger und eigenwilliger Vampirologie-Professor Van Helsing eine absolut souveräne Darbietung. Beherzt hackt er der als Mensch durch Draculas Biss verlorenen Lucy den Kopf ab und hält ihn hoch, was dann aber doch Lacher hervorruft.
Die etwas frivole Lucy Westenra spielt Julia Coolens und Carolin Olbricht ihre Freundin Mina - beide mit bezwingender Natürlichkeit. Auch die wichtigen Nebenrollen sind überzeugend besetzt: von Silke Bayer, Angela Sauter, Irfan Kars, Vito Marzio, Pascal Muckenfuß, Ulrich Heck, Denis Blank. Dazu die große Zahl der Mitwirkenden, die in verschiedene Rollen schlüpfen, wie Psychiatrie-Patienten, tratschende Passantinnen oder Vampirdamen, die in Tingeltangel-Montur auf Eroberung ausgehen. Die Kostüme entwarf erstmals Sibylle Schulze. Besonders die Kleidung der feinen Gesellschaft hat imponiert. (GEA)