28.06.2010 - Reutlinger General-Anzeiger
Schauspiel der großen Gefühle
Amateurtheater vom Feinsten: »Der Glöckner von Notre Dame« im Reutlinger Wasenwald
Von Monique Cantré
Eine wundervolle Premiere feierte das Naturtheater Reutlingen (NTR) am Samstagabend. Da stimmte wirklich alles: das Sommerwetter, ein volles Haus und eine perfekte Inszenierung. "Der Glöckner von Notre Dame" bot ein pralles Theatererlebnis, das von bunten Volksszenen und tollen schauspielerischen Einzelleistungen in einer imposanten Kulisse, getragen von stimmungsvoller "Filmmusik", lebte und große Gefühle transportierte.
Regisseurin Susanne Heydenreich schenkt in Jörg Mihans Bühnenfassung von Victor Hugos Roman den Akzenten, die bis in die Gegenwart wirken, besondere Aufmerksamkeit. Zum einen betont sie die historische Situation des Umbruchs vom Mittelalter in Richtung Aufklärung, als durch die Erfindung des Buchdrucks Bücher in viele Hände gelangten und das Herrschaftswissen von Klerus und Elite ein Ende fand. Und als mithilfe von gedruckten Flugblättern auf breiter Basis informiert und agitiert werden konnte. Zum anderen führt sie vor Augen, wie in jener erwachenden Vor-Medien-Gesellschaft mit Behinderten - wie dem verunstalteten Glöckner Quasimodo - umgegangen wurde, wie Menschen aus Randgruppen - wie die als Hexe diffamierte Zigeunerin Esmeralda - behandelt wurden, wie sich Arme zu Diebesbanden und Parallelgesellschaften zusammenrotteten, wie Priester der Sorte Claude Frollo - ihren sexuellen Begierden erlagen.
Enormer Körpereinsatz
Vor allem aber bereitet Susanne Heydenreich der unsterblichen, zu Herzen gehenden Tragödie um Quasimodo und Esmeralda eine Bühne. Die bestens präparierte NTR-Amateurtruppe, die sich sowohl durch enormen Körpereinsatz als auch durch gute Sprechkultur auszeichnete, war der Garant dafür, dass die gewaltigen Emotionen wahrhaftig erschienen und das Schicksalhafte unter die Haut ging. Zahlreiche komische Szenen, darunter eine gelungene Gerichts-Parodie, verhinderten zudem, dass die Story ins Sentimentale abgleiten konnte.
Die Pariser Kirche Notre Dame, deren Glockengeläut die NTR-Tontechnik überwältigend in den Wasenwald schallen ließ, wird im Bühnenbild von Jolanta Slowik mit einer Balustrade zwischen zwei Türmen und der gotischen Fensterrosette zitiert, die zugleich als Portal diente und von hinten effektvoll illuminiert wurde. Als Menetekel weist das Wort "Ananké" - Verhängnis - auf einer Wand der Kathedrale darauf hin, wie die Geschichte enden wird, nämlich mit dem Justizmord an Esmeralda und dem Freitod von Quasimodo, deren beider Skelette ungewöhnlich ineinander verhakt gefunden wurden. Dies erläutert Victor Hugos Text, der (gesprochen von Susanne Heydenreich) als Einleitung und zum Schluss über Lautsprecher zu hören war.
Dazwischen entwickelte sich die Handlung szenisch, gewissermaßen in Breitwandformat. Wie die ausgesetzte "Missgeburt" am Sonntag Quasimodo von Nonnen gefunden und als »verunglückter Affe« in die Obhut des Erzdechanten Claude Frollo gelangte. Wie sich Quasimodo nach 20 Jahren als buckliger Ausbund von Hässlichkeit in die tanzende Esmeralda verliebt. Wie diese sich in den schmucken Hauptmann Phöbus verliebt, der sie - was packend herausgespielt wird - nur für ein Abenteuer ausnutzt. Wie Frollo das Schäferstündchen blutig beendet, wofür indes Esmeralda zum Tod verurteilt wird. Wie Quasimodo sie vor dem Galgen rettet und in die Kirche schafft, wo sie wiederum den Nachstellungen des Erzdechanten Frollo ausgesetzt ist. Und wie sie dann doch hingerichtet wird -
Sascha Diener in der Titelrolle
Gerettet vor dem Henker wird vom Jungdichter Pierre Gingoire wenigstens Esmeraldas Ziege, die das dümmliche Gericht ebenfalls zum Tod verurteilt hatte. Diese kleine schwarze Ziege, ein "Gast" vom Hofgut Gaisbühl, hatte schnell alle Sympathien auf ihrer Seite, so dizipliniert, wie sie ihre Herrin begleitete. Die bildhübsche Carolin Olbricht als Esmeralda bezauberte das Publikum aber mindestens genauso. Sie spielte die Zigeunerin als frisches junges Ding ohne Argwohn oder erotische Berechnung: eine sehr überzeugende Figurenzeichnung! Als ein zwielichtiger Kirchenmann und durchtriebener Intellektueller erschien Frollo in der gekonnten Darstellung durch Holger Schlosser, der mit Glatze und geschminkter Hohlwangigkeit echt fies aussah.
Ein noch größeres Meisterwerk der Maskenbildnerei war Sascha Dieners grausam entstelltes Quasimodo-Gesicht. Wie Diener sich als hinkender Mann mit verwachsenem Körper bewegte, war schlichtweg grandios!
Neben diesen drei Portagonisten waren auch die Nebenrollen überzeugend besetzt, stellvertretend seien Julia Coolens, Claudias Sieger, Maximilian Knoll, Ulrich Heck, Rainer Kurze oder Denis Blank genannt. Und entscheidenden Anteil am Gelingen hatte die große Gruppe der Darsteller, die in zahlreiche Rollen - und ganz fix in die entsprechenden Kostüme - schlüpfen musste. Die Kostüme hatte Lucia Tunas entworfen und Trude Hecks Schneiderei hergestellt.