2005 - Musical-Zeitung
Dem Naturtheater Reutlingen gelang der große Wurf
Schräge Geschichten aus Berlin
Es ist eines der bedeutendsten deutschen Musicals: Am Samstag feierte das Naturtheater Premiere mit Volker Ludwigs Theaterstück "Linie 1". Damit, so Vorsitzender Rainer Kurze, habe man künstlerisches Neuland betreten. Was unter der Regie von Susanne Heydenreich und allen anderen Mitwirkenden dabei entstanden ist, ist absolut sehenswert, und nicht nur die Hauptdarsteller Sascha Diener, Julia Coolens und Tanja Schönwälder wurden vom Publikum frenetisch gefeiert.
1986, 6 Uhr 14, Bahnhof Zoo: Das Mädchen (Julia Coolens) ist gerade in Berlin angekommen. Nun schaut sie sich um, verschüchtert und doch erwartungsvoll. Ihr Name tut nichts zur Sache, sie ist eine von vielen, die sich aus der Provinz aufgemacht haben, um in der Hauptstadt das Glück zu finden. Ihr Glück trägt den Namen Johnnie.
Auf seiner Tournee durch Westdeutschland hat sie den Rockstar kennen gelernt. Nun glaubt sie schwanger zu sein. Die Linie 1 soll das Mädchen zu ihm nach Kreuzberg bringen, in die Andersenstraße, die sich als Märchen entpuppt, als Scheinadresse. Einen Tag und eine Berliner Nacht später taucht Johnnie doch noch auf. Aber das Mädchen entscheidet sich für einen Anderen, einen Nachdenklichen und Sensiblen, und Freunde hat es auch gefunden, die wollen – kitschig überhöht – dem Kinde Josef und Maria sein. Dazwischen aber – und es gibt viel Dazwischen – ist "Linie 1" ein Gradmesser des Zustands der Bundesrepublik der 80er Jahre, fokussiert auf Berlin und eine U-Bahnstrecke, den idealen Ort, um ein Panoptikum von Seinszuständen und Geisteshaltungen zu präsentieren.
33 Darstellerinnen und Darsteller in fast unüberschaubar vielen Rollen hat das Naturtheater Reutlingen auf die Bühne gebracht. Unüberschaubar deshalb, weil viele von ihnen unscheinbar bleiben, am Rande, stumm, ja, unbedeutend, Verlierer eben, aber unbedeutende Verlierer. Da braucht es schon etwas mehr als den Rosenverkäufer, der vom Skinhead angerempelt wird. Der rappelt sich ja wieder auf. Und es braucht auch etwas anderes als jene Paare, die sich wortreich gegenseitig nerven, weil sie sich nichts zu sagen haben. Oder die Rentner, die die Dramen der Krankheit durchackern, als könnten sie damit den Tod fortreden: "Man muss den Stuhlgang immer prüfen, auf die Farbe kommt´s an!" Der Bürger, der sich über die türkische Familie aufregt: "Unsereiner schuftet sich kaputt, und die ficken sich das Geld zusammen!" Die Wilmersdorfer Witwen, die Adolfs Zeiten hinterher heulen und dabei beteuern, sie hätten immer nur deutsch-national gewählt. Die Kommunistin, die Max Liebermann zitiert: "Man kann gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte!" Das alles genügt nicht, um die Fahrgäste
aufzurütteln.
Natürlich: Betroffenheit hier, Unverständnis da, und nette Gesten, höfliches Zuhören, Weltverbesserer, Optimismus. So wie das Motto der BVG: "Netter geht´s besser!" So wie das schwule Pärchen, das sich küsst (und zwar richtig, und damit – man möchte das kaum glauben und es deshalb auch einfach nur der Berühmtheit der Darsteller Rainer Kurze und Hartmut Pohnke zuschreiben – für ein Raunen und Gelächter in den Zuschauerrängen sorgt).
Andere küssen sich auch, aber die sind "normal", so normal wie deutsche Touristen, im Gegensatz zu amerikanischen und japanischen (musikalisch grandios in Szene gesetzt von Alexander Reuter). Nein, etwas muss das Volk – das damals noch nicht Volk hieß – aufrütteln. Komischerweise (denn das ist komisch) ist das der Selbstmord einer kleinen Punkerin. Lumpi (Sarah Herfter) hat es halt nicht gepackt, sie ist im wörtlichen Sinn unter die (U-Bahn-) Räder geraten, die kleine Kifferin, die Obdach- und Haltlose. Sie wird zur Klammer, zur Matrix, die schließlich zur Erkenntnis führt, "dass alle beschissen werden von Leuten, die du nie in der UBahn triffst."! Dann, wie gesagt, kitschiges Ende: Bier für die Alkis, Pärchenbildung allenthalben, Sonnenaufgang über Berliner, Maria und Josef! Fantastisch!